Erfahrungsberichte geben die Meinung des Autors wieder.
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Ich wurde 1960 geboren und bin jetzt 1,27 m groß. Als ich meine Mutter mit circa 6 Jahren fragte, wieso ich so klein bin, war sie ratlos; an ihre Tränen erinnere ich mich noch heute. Meine Familie hat mich in der Kindheit mehr beschützt wie unterstützt. Sie haben mich verwöhnt, „auf Händen getragen“ und mir die Steine aus dem Weg geräumt. Als Kind fand ich das toll. In dem Dorf, in dem wir wohnten, war ich mit den anderen Kindern immer zusammen und fand es nicht schwierig, Freunde zu finden. Meine beiden jüngeren Brüder waren darauf getrimmt, mich überall hin mitzunehmen und zu beschützen.
Später musste ich diese behütete Zeit büßen, weil ich Selbständigkeit nicht gelernt hatte. Viele Dinge, wie Fahrradfahren oder schwimmen, bei Diskussionen mitreden und sich behaupten, habe ich erst als Erwachsene – zusammen mit meinem kleinwüchsigen Sohn – gelernt. Es ist mir viel schwerer gefallen und deshalb habe ich bei meinem Sohn darauf geachtet, dass er ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelt und habe ihn nicht verwöhnt. Bei Problemen musste er erst versuchen, eigene Lösungen zu finden und bekam nur auf Wunsch Ratschläge. So schön ich meine Kindheit empfunden habe, soviel härter war die Pubertät. Mir wurde immer das Gefühl vermittelt, dass Liebe und Sexualität nichts für mich sind. Ich wurde zu einer Verzichthaltung erzogen und war schließlich so eingeschüchtert und gehemmt, dass es mir richtig schwergefallen ist, Freundschaften oder Partnerschaften zu schließen. Wegen dieser anerzogenen Unsicherheit habe ich auch den („normalwüchsigen“) Vater meines Sohnes nicht geheiratet. In meinem Freundeskreis war ich immer der Seelendoktor; es war einerseits schön, gebraucht zu werden – andererseits aber anstrengend, weil niemand danach fragte, wie es mir ohne feste Beziehung geht. Es war wirklich nicht einfach einen Partner zu finden, zumal ich mit anderen Kleinwüchsigen keinen Kontakt hatte. Ich hatte auch kaum andere Kleinwüchsige gesehen und war nach meinem ersten Besuch bei einer Selbsthilfegruppe völlig geschockt. Auch dies habe ich für meinem Sohn anders gemacht, wir waren regelmäßig bei diesen Treffen. Mein Sohn hat dort viel Kontakt zu Kleinwüchsigen seines Alters gehabt; zumindest bis er circa 16 Jahre alt war. Bei dieser Selbsthilfegruppe habe ich auch meinen Mann (1,30 m) kennengelernt. Wir sind füreinander sehr dankbar.
Zunächst wollte ich Kindergärtnerin werden, habe aber gemerkt, dass ich nicht dauernd den Fragen der Kinder – und vor allem nicht den Reaktionen der Eltern – ausgesetzt sein wollte. Ich habe Industriekauffrau gelernt und nach der Ausbildung sehr viele Bewerbungen losgeschickt. Nur wenn ich meinen Kleinwuchs nicht angegeben hatte, wurde ich zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Dabei waren die Reaktionen der Personalchefs überwiegend negativ und ich wurde offen wegen meines Kleinwuchses abgelehnt. Damals habe ich das geschluckt, heute würde ich nach einem wirklich sachlichen und triftigen Grund der Ablehnung fragen. Durch einen Bekannten habe ich meinen jetzigen Arbeitsplatz gefunden, an dem ich mich wohl fühle.
Mein Mann wollte ursprünglich Uhrmacher werden. Das Arbeitsamt hat ihn in verschiedenen Bereichen getestet; er war technisch sehr begabt und hat eine Ausbildung zum Techniker gemacht. Heute arbeitet er als Elektrotechniker.
Mit 35 Jahren hatte ich eine spinale Stenose. Alle Lendenwirbel mussten „gefensterlt“ werden. Wir Kleinwüchsigen haben einen verengten Kanal. Jede kleinste Ablagerung drückt auf die Nerven, die dann eingequetscht werden. Dies beginnt recht harmlos, zieht sich unter Umständen Jahre hin, steigert sich und kann bis zu einer symptomalen Querschnittslähmung führen. Anfangs hilft es, einfach in die Hocke zu gehen, um den eingeklemmten Nerv zu befreien. Streckungen, die mir mein Orthopäde verschrieben hat, halfen mir auch immer nur kurz; deshalb blieb mir nur die Operation.
Insgesamt wünsche ich mir für unsere Zukunft, dass die Leute uns nicht immer so anstarren oder behandeln, als wären wir unmündig, wie es einer Freundin passiert ist. Sie wollte eine Versicherung abschließen, der Vertreter sprach aber über ihren Kopf weg mit ihrem („normalwüchsigen“) Mann, bis sie sich energisch wehrte. Am meisten tun mir die Reaktionen der Erwachsenen weh. Wir erleben oft, dass Kinder ihre Mütter oder Väter fragen: „Mama, wieso ist die so klein“ und die Antwort lautet:“pssst, sei still!“ oder „Die hat nicht genug gegessen.“
Wir Kleinwüchsigen müssen immer beweisen, dass wir erwachsen sind und mindestens soviel wissen wie unser Gegenüber. Wir müssen Schlagworte parat haben, damit wir ernstgenommen werden. Dabei sind wir doch ganz normale Menschen, einfach nur ein bisschen anders. Und wie sagte Richard von Weizsäcker: „Es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Normen für das Mensch sein.“
Stand vor 2015