(von Karin Hallauer)
Erfahrungsberichte geben die Meinung des Autors wieder.
Diese Meinung kann abweichen von der Kontaktgruppe bzw. der Redaktion!
In Deutschland leben etwa 100.000 kleinwüchsige Menschen. Als kleinwüchsig gelten Erwachsene, die nicht größer als 1,50 m sind. Von den rund 100 Formen des Kleinwuchses ist die häufigste Form eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung des Knorpel- und Knochengewebes (Skelettdysplasie). Die korrekte medizinische Bezeichnung der Wachstumsstörung lautet „Achondroplasie“. Schon längere Zeit wurde vermutet, daß Achondroplasie auf der Mutation eines Gens beruht. Seit 1996 kennt man die Ursache: ein Defekt im Fibroblasten-Wachstumsfaktor-Rezeptor-3-Gen auf Chromosom 4p.(fibroblast groth factor receptor 3=FGFR3). Bei einer normalen Knorpelzelle sitzt an der Zelloberfläche der Signalempfänger (FGF-Rezeptor 3), der den Wachstumsfaktor (FGF) einfängt und in das Zellinnere weiterleitet. Bei Achondroplasie sitzt der Rezeptor auch an der Zelloberfläche, ist jedoch durch den Austausch von Glyzin durch Arginin (Aminosäuren) so verändert, dass er seine Aufgabe nicht mehr wahrnehmen und damit das „Wachtsumssignal“ nicht weiter in die Zelle leiten kann. Das Ergebnis ist die unzureichende Teilung der Knorpelzellen. Da die restlichen für die Herstellung verschiedener Rezeptoren verantwortlichen Gene bei der Achondroplasie nicht betroffen sind, entwickeln sich andere Gewebe wie Gehirn, Lunge, Herz und Leber völlig normal. Achondroplasie entsteht in den häufigsten Fällen durch eine Spontanmutation.
Diagnose
Die äußerlichen Symptome der Achondroplasie sind kurze Oberarme und Oberschenkel, kleine, oft breitere Hände und Füße und relativ dazu ein langer Rumpf. Hüft- und Ellenbogengelenke können nicht ganz gestreckt, Finger-, Knie und Fußgelenke dagegen überstreckt werden. Im Röntgenbild erkennt man deutliche Verdickungen des Skeletts – vor allem eingeengte Knochen-Kanäle und -Öffnungen, wie das Foramen magnum.
Merkmale
•bei der Geburt:
overänderte äußere Körperproportionen: in Relation zum normal Ò langen Rumpf kurze Oberarme und Oberschenkel, vorgewölbte Stirn, tiefe Nasenwurzel, V-Bildung zwischen Mittel- und Ringfinger. Die Körperlänge ist etwas geringer als bei anderen Neugeborenen. Durch den kleinen Brustkorb kommt es häufig zu Atembeeinträchtigungen. Infolge des verengten Foramen magnums kann der Liquorabfluß behindert sein.
- Kindheit:
- Durch die räumliche Enge des Nasenrachenraumes und der Eustachischen Röhren treten verstärkt Infekte der oberen Atemwege und vor allem Entzündungen des Mittelohres (auch Paukenergüsse) auf. Wichtig ist, bereits in der frühesten Kindheit auf Hörstörungen zu achten, die in Folge die Sprachentwicklung beeinträchtigen würden. Wegen des engen Wirbelkanals treten gehäuft Rückenbeschwerden auf. Verzögerte und langsamere körperliche Entwicklung (z.B. späteres sitzen- und gehen lernen). Wesentlich eingeschränkter Greifradius durch die kürzeren Arme und die geringere Streckbarkeit der Ellenbogen; schnellere Ermüdung durch den im Verhältnis schwereren Kopf, ansonsten völlig normale Entwicklung und Intelligenz
- Pupertät:
- unterschiedlich stark ausgeprägte Beinachsenveränderungen (O-Bein oder X-Bein) mit der Folge, dass zunehmende Geh- und Gelenkbeschwerden auftreten können. Die Verengung des Rückenmarkkanals kann zu Beschwerden wie Schmerzen in den Knien, Taubheitsgefühlen und Muskelschwäche im Beinbereich führen. Verbiegung der Wirbelsäule: Rundrücken (Kyphose) und als Ausgleich ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Hohlkreuz (Hyperlordose), Neigung zu Übergewicht (meist aber nur im Vergleich zum Skelett, Wachstum der Haut und des sonstigen Gewebes ist ja normal). Im Erwachsenenalter gleicht sich dies meist aus.
- Erwachsene:
- großer Kopf, verstärkte Wirbelsäulenverkrümmung, Wachstum endet zwischen circa 0,95 m bis circa 1,30 m, mit steigendem Alter (bereits ab Mitte 20) Zunahme der Beschwerden. Es ist wichtig, die meist langsam steigenden Beschwerden so früh wie möglich zu erkennen und je nach individuellem Bedarf Abhilfe zu schaffen.
Bei Achondroplasie ist ein behutsames Narkose-Vorgehen wichtig – siehe separate Narkose Hinweise
Therapie
Die wichtigste und erfolgreichste „Therapie“ ist die Aufgabe der Eltern, schon das Kleinkind psychisch zu stärken und eine stabile „innere Größe“ aufzubauen. Dazu gehört, die Eigeninitiative und Selbständigkeit der Kinder gezielt zu fördern. Die Kinder müssen von den Erwachsenen in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, von Ärzten und Ärztinnen nicht der Größe, sondern dem Alter entsprechend behandelt werden. Kleinwüchsige sind völlig normale Menschen, sie sind nur kleiner. Hier ist den letzten Jahren durch selbstbewusst auftretende Menschen mit Kleinwuchs, unterstützt von aktiven Selbsthilfegruppen, sicher eine bessere Akzeptanz erzielt worden. Unsere Gesellschaft ist jedoch weiter gefordert, Kleinwuchs nur als eine von vielen Besonderheit zu sehen und positive Unterstützung zu geben.
Eine Heilung im Sinne von Erreichen einer durchschnittlichen Körperlänge bei Achondroplasie gibt es nicht, da die Körperproportionen nicht den der „Normalwüchsigen“ angeglichen werden können. Dagegen haben in den letzten Jahren Korrektur- und Linderungsmöglichkeiten Zuspruch gefunden. Bei Überschreitung der Beinachsenfehlstellung von mehr als 20° kann eine operative Korrektur durchgeführt werden, um die strapazierten Gelenke nicht zu überlasten und letztlich zu schädigen. Vorbeugende Maßnahmen wie Krankengymnastik und verschiedene Formen psychophysischen Trainings (Bobath, Sensory awareness etc) können zur Entlastung beitragen. Betroffene berichten, dass konservative Maßnahmen zur Behebung orthopädischer Probleme nicht viel nützen. Sanfte Krankengymnastik, Bewegung und regelmäßiger Sport (Radfahren/Schwimmen) sind sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene sinnvoll, um die Gesamtmuskulatur zu stärken.
Einige orthopädische Kliniken in Deutschland bieten Operationen zur Beinverlängerung an. Meist wird der Oberschenkelknochen durchtrennt und mit einer externen Apparatur stufenweise in die Länge gezogen. Neuerdings gibt es auch einen sogenannten Marknagel, der in das Mark des durchgetrennten Knochen eingesetzt wird und von außen mit einem Elektroniksystem gesteuert, den Knochen verlängert. Dies kann auch für eine Beinbegradigung angewandt werden.
Eingehende Beratung der Betroffenen und der Eltern ist unbedingt notwendig, da diese langwierigen, schmerzhaften und aufwändigen Therapien nicht ohne Risiken (Infektionen, Nervenschädigungen, Abhängigkeit von Schmerzmittel) sind. Pauschal gilt für eine Knochenverlängerung eine Behandlungszeit von einem Jahr für circa 10 cm Längengewinn.
Viele Kleinwüchsige lehnen die Verlängerungsmöglichkeit ab, weil ein Hauptmerkmal – „die auffälligen Proportionen“ und die Behinderung an sich – nicht rückgängig gemacht werden kann. Andererseits geben Betroffene, die deutlich unter der Durchschnittsgröße des Kleinwuchs bleiben, leichter Zustimmung zu einer Verlängerung, da sie danach einfacher „banale“ Dinge des Alltags (z.B. Bedienung von Geldautomaten, Fahrkartenschalter etc.) bewältigen können.
Praktische Hilfen und Tipps
- Tripp-Trapp Stuhl und/oder verstellbarer Stuhl mit Armlehnen, Fuß-und Rückenstütze,
- Rutschfeste Hocker, auch als Leiter nutzbar
- Kordel an Türklinken
- Lichtschalter auf ca. 80 cm Höhe versetzen oder Schnur-Schalter
- doppelter Büchersatz für Schule und Zuhause
- Helm bei Rad- und Skifahren, auch für Erwachsene
- in der Wohnung mehr Stauraum auf niedriger Höhe
- niedrige Garderobenhaken
- auf niedrige Treppenstufen und Geländer achten
Wünsche an Ärzte und Fachleute
- korrekte Bezeichnung der Wachstumsstörung als „Kleinwuchs“
- verniedlichende und abwertende Begriffe, wie „Zwergwuchs“ und „Minderwuchs“ sollen aus dem Sprachgebrauch verschwinden
- körperliche Beschwerden anerkennen, ohne jedes Mal die ganze Prozedur (Hausarzt-Orthopäde-neue Röntgenbilder-med. Dienst-Vertrauensarzt) zu wiederholen
- Sensibilität bei Erstellung der Diagnose
Fallbeispiel (pränatal):
Zum Zeitpunkt der Geburt von M. waren mein Mann und ich 30 Jahre alt. Wir hatten schon zwei Söhne. Meine dritte Schwangerschaft verlief eigentlich ganz normal. Bei den Routineuntersuchungen sagte die Ärztin wiederholt, dass ich wegen des großen Kopfumfanges wohl ein besonders großes Kind erwarten würde. Im Nachhinein finde ich, dass mich meine Frauenärztin zu einer genaueren Untersuchung hätte schicken sollen. Die Geburt zog sich circa 18 Stunden hin; dies hatte ich nach problemlosen und schnellen Geburten nicht erwartet. Endlich hatte ich mein Kind im Arm. Sein Gewicht betrug 4.360 g und seine Länge 52 cm. Sein Aussehen beunruhigte mich sofort: er hatte einen großen Kopf, kurze Arme und Beine. Kurze Zeit nach der Geburt kam der leitende Kinderarzt und nannte uns noch im Kreissaal die Diagnose „Kleinwuchs“. Er erwähnte im gleichen Atemzug einen bekannten, kleinwüchsigen Musiker, den er bewunderte. Ich glaube, seine Botschaft an uns sollte bedeuten: „Ihr Sohn ist klein, aber ansonsten ist alles in Ordnung mit ihm.“ So richtig aufnehmen konnte ich dies aber zu diesem Zeitpunkt nicht. Eine Kinderärztin ist mir aber in sehr unangenehmer Erinnerung geblieben. Sie fragte mich noch am Tag der Geburt: „Warum konnten Sie sich nicht mit zwei gesunden Kindern zufrieden geben?“ Ich habe dies nicht vergessen können und empfinde es noch heute als zutiefst verletzend.
Das richtige Begreifen und die Trauer kam eigentlich erst zu Hause. Ich wollte alles über die Diagnose wissen, suchte Kontaktadressen, Betroffene, Selbsthilfegruppen. Heute glaube ich ganz fest, dass dies der richtige Weg für uns war: Stück für Stück sind wir mit dem „Kleinwuchs“ größer geworden.
Für uns und für seine Geschwister ist M. eine große Bereicherung. Ich hoffe, er bewahrt sich sein Selbstbewusstsein und seine Neugier.