Das perfekte Kind
Pro und Contra der Pränataldiagnostik (PID)
oder Ist vorgeburtliche Diagnostik eine Entscheidungshilfe?
Eine Stellungnahme von Karin Hellauer
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Vor ein paar Tagen saß ich in der Wartezone am Flughafen und las in meinem Buch, um mir die Zeit bis zum Aufruf der Maschine zu vertreiben. Nach einer Weile wurde ich unruhig und sah auf mit dem sicheren Gefühl, jemand beobachtet mich. Und wirklich, nach zwei, drei Blicken rundum, sah ich ihn: ein junger Mann, circa 18 bis 20 Jahre alt, schaute mich intensiv an. Als sich unsere Blicke trafen, lachte er mich so froh und sonnig an, daß ich nicht nur ebenso herzlich zurücklachen konnte, sondern ganz tief berührt und für einen Augenblick glücklich zurückblieb. Er war in Begleitung einer etwas älteren Dame, offensichtlich seine Mutter. Ich konnte ihn eine Weile nicht aus den Augen lassen und freute mich an der liebevollen Art der beiden miteinander. Gerne hätte ich die Mutter gefragt, wie sie ihre Schwangerschaft erlebt habe und die Zeit danach und ob ihr Sohn für sie eigentlich perfekt sei. Leider verloren sich unsere Wege und so kann ich das Positive nur vermuten, denn sonst gäbe es den jungen Mann vielleicht nicht: er hatte das Down Syndrom. Bei diesem Begriff haben Sie vielleicht ein ganz anderes Bild als ich vor Augen: „so ein schweres Schicksal, ein behindertes Kind, das braucht doch ständig Pflege, welch eine Belastung für die Familie…?“ Ich aber sah einen erfrischend fröhlichen und neugierigen, jungen Mann und frage mich: „Warum ist es heute so schwer, ein Kind so anzunehmen wie es ist“?
Einfach schwanger?
Das galt früher, als eine Frau noch „guter Hoffnung“ war, wenn sie ein Kind erwartete. Heute beginnt vom Moment des Wissens um die Schwangerschaft auch eine Zeit der Angst – unter Umständen bis hin zur Geburt. Die Rolle der Eltern und die gesellschaftlich bedingten beruflichen Verpflichtungen haben sich deutlich verändert. Schwangerschaft wird heute von den werdenden Eltern meist sehr genau geplant. In unserer Gesellschaft wird die Familienplanung verstärkt aufgeschoben, bis sich ein Kind in die Anforderungen, die der Beruf stellt, einfügen lässt oder bis der richtige Partner gefunden ist. Dann aber ist der Druck – und die tickende Zeituhr bei den Frauen – sehr groß und das Kind soll möglichst perfekt sein.
Früher Schicksal und heute „Auswahl“?
Die Pränataldiagnostik ermöglicht eine genaue Planung, Überwachung und Optimierung der Schwangerschaft und erzeugt damit einen hohen Entscheidungs-druck auf werdende Mütter und Väter. Die vielfältigen Untersuchungsmöglichkeiten in der Schwangerschaft helfen, sich regelmäßig zu überzeugen, daß mit dem Baby alles in Ordnung ist oder suggerieren, daß entdeckte Probleme in Ordnung gebracht werden können. Dies ist jedoch meist ein Trugschluss, denn die wenigsten Diagnosen führen dazu, daß eine im Mutterleib vorgenommene Behandlung oder Operation das Baby gesund machen kann. Der Begriff „Vorsorge“ ist eher missverständlich: wir sorgen ja nicht vor, daß eine Krankheit oder Behinderung nicht entsteht, sondern wir erkennen nur etwas, das bereits vorhanden ist. Wenn nun eine Untersuchung zu einem unklarem Ergebnis führt oder ein Verdacht auf eine Behinderung besteht, wird oft sehr schnell diese Schwangerschaft abgebrochen und ein neuer Versuch gewagt, mit der Hoffnung auf ein „gesundes und optimales“ Baby.
Die Aussagekraft der verschiedenen Untersuchungen sind aber meist fraglich, denn kein Arzt und keine Ärztin wird sagen: „Ihr Baby ist mit 100%-iger Sicherheit behindert“, sondern eher „die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Baby behindert zur Welt kommt, liegt bei 50-60%“. Von den Eltern wird erwartet, daß das Vorsorgeangebot während der Schwangerschaft auch genutzt wird. Kommt ein Kind mit einer Behinderung zur Welt, hören Eltern von Verwandten, Bekannten oder auch ganz fremden Personen durchaus den Satz: „Das hätte aber nicht sein müssen.“ Ist es provokant zu behaupten: „Doch, das musste sein!“?
Pro und Contra
Vorsorgeuntersuchungen sollen alles außerhalb der Norm feststellen. Ziel der Pränataldiagnostik ist es, weniger Kinder mit Behinderungen auf die Welt kommen zu lassen. Ärzte und Ärztinnen sind in der Zwickmühle: sie müssen alles Erdenkliche zu tun, um Auffälligkeiten, Krankheiten oder eine Behinderung des Embryos so früh wie möglich zu entdecken und den Eltern mitzuteilen. Sie sind also dann erfolgreich, wenn sie etwas „Unnormales“ finden. Unterlassen sie bestimmte Untersuchungen und weisen die Schwangere auch nicht auf entsprechende Möglichkeit hin, können sie (und wurden auch bereits) im Falle einer Behinderung zu Schadensersatz verurteilt werden.
Mit Hilfe der Pränataldiagnostik entscheiden Eltern heute über die Existenzberechtigung ihres Kindes. Diese Diagnostik ist nicht neutral einsetzbar, sondern führt immer zu „Pro und Contra“ Entscheidungen. Jedes werdende Elternpaar, das die Möglichkeit zur pränatalen Diagnostik nutzt, muss seine eigenen, individuellen Grenzen ziehen. Das aber können werdende Eltern nur, wenn sie wissen, worauf sie sich einlassen und in der Lage sind, zu entscheiden, was sie mit der medizinischen Erkenntnis anfangen wollen und können. Ein Thema, das – wie ich finde – bereits in den Aufklärungsunterricht gehört: was und warum untersucht wird und vor allem, sich darüber klar werden, was ein „positives“ Ergebnis individuell bedeuten wird.
Im Frühjahr 2009 konnte nach jahrelangen Diskussionen eine parteiübergreifende Lösung zum Spät-Schwangerschaftsabbruch gefunden werden. Diese sieht nun eine ärztliche Beratung und dreitägige Bedenkzeit vor. Die Initiative wollte verhindern, dass Frauen im Affekt Entscheidungen zum Abbruch treffen, die sie später bereuen könnten. Drei Tage sind in jedem Fall besser als die Nichtregelung vorher, aber im Grunde sind auch diese drei Tage nicht ausreichend. Innerhalb dieser Zeit muss die Mutter und der Vater nicht nur die Erkenntnis, dass ihr Kind vermutlich (!) behindert sein wird, verdauen, sondern auch entscheiden, ob sie diesem Kind mit den besonderen Bedürfnissen eine Lebenschance einräumen wollen oder nicht. Sie müssen wissen oder innerhalb dieser kurzen Zeit herausfinden, was sie sich selbst zutrauen.
Ich halte eine Beratung nur geeignet, wenn ergebnisoffen beraten werden kann und bei einer Diagnose „behindert“ nicht nur die Schwierigkeiten betont werden. Gelingt es der Schwangeren, zu anderen betroffenen Familien Kontakt herzustellen, fällt es ihr meist leichter zu abzuwägen, ob sie selbst in der Lage sein würde, diese Herausforderung zu meistern.
Übrigens: circa 95% der Behinderungen entstehen erst nach der Geburt – durch Unfälle oder spätere Erkrankungen. Wir entkommen also nicht der Auseinandersetzung über Behinderung – sei es die eigene oder die eines Familienmitgliedes oder die von Freunden.
Wir alle wünschen uns gesunde Kinder!
Sind wir über das Ziel, gesunde Kinder zu haben, hinaus geraten? Der Wunsch, unsägliches Leid und Schmerz zu verhindern, ist verständlich. Aber ist jede sogenannte Behinderung ausschließlich Leid? Hier eine Grenze zu finden, ist mit das Schwerste, was ich mir vorstellen kann.
Jemand, der nicht sieht oder hört oder klein ist oder in irgendeiner Weise nicht den aktuellen Anforderungen der Gesellschaft entspricht, kann ein glückliches, selbstbestimmtes Leben führen, genauso wie jemand, der die von Wissenstand, Stimmungen und Modeerscheinungen beeinflussten Normen erfüllt. Die Sicht auf dieses schwierige Thema hat sich im Laufe der Jahrhunderte bedeutend verändert. Heute lautet die Aufgabe unserer Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen, Bedingungen zu schaffen, mit denen es sich gut leben lässt. Und dazu gehört, Eltern mit Kindern, die eine Behinderung haben:
•- das tägliche Leben zu erleichtern
•- gezielt und individuell Hilfe anbieten
•- Mut machen, sich besonderen Herausforderungen zu stellen
•- sie in die Gesellschaft der sogenannten Normalen zu integrieren
Ein Beispiel:
In Dänemark werden bei kleinwüchsigen Menschen fast keine Knochenverlängerungen vorgenommen. Dort ist es aber auch üblich, daß die Familien speziell unterstützt werden und man finanzielle Hilfen z.B. zu speziellen Wohnungseinrichtungen bekommt, die es ermöglichen, dass kleinwüchsige Kinder, Jugendliche und Erwachsene, alle alltäglichen Arbeiten leicht selbst erledigen können.
Seit einiger Zeit werden Kinder mit Behinderungen verstärkt in Regelschulen eingeschult – das ist der richtige Weg für beide Seiten, die voneinander lernen können. LehrerInnen aus entsprechenden Schulen bestätigen ein größeres Sozialverhalten der Kinder untereinander.
Der Begriff „gesund“ umschließt ja nicht nur die äußere Unversehrtheit, sondern meint auch seelisch gesunde, fröhliche Kinder und die Gabe dazu wird in der Erziehung, in den Familien geprägt. Wir sollten uns auch abgewöhnen, immer nur auf die Behinderung zu schauen – der ganze Mensch mit all seinen Fähigkeiten und Gefühlen ist interessant!
Die Uhr lässt sich nur schwer zurückdrehen.
Die Forschung in Medizin und Humanbiologie waren und sind laufende Prozesse, die einen enormen Fortschritt gebracht haben. Es bestreitet heute keiner, daß es ein Segen ist, Krankheiten wie Tuberkulose, Masern oder Pocken heilen zu können. Es geht heute allerdings nicht mehr nur darum, Krankheiten heilen zu können, sondern es geht um ein Eingreifen in den natürlichen Ablauf, mit dem Ziel Krankheiten oder Behinderungen auszuschließen.
Warum stehe ich der Pränataldiagnostik kritisch gegenüber? Für mich ist es sehr fragwürdig, die Natur zu manipulieren, zu verbessern oder gar perfektionieren zu wollen. Mit Hilfe der Pränataldiagnostik wird verhindert, daß Babys mit einem bestimmtem „Defekt“ geboren werden. Seit der Möglichkeit der Früherkennung von verschiedenen Behinderungen, werden deutlich weniger Babys z.B. mit Down Syndrom geboren. Dies heißt aber nicht, daß Down Syndrom geheilt werden könnte – sondern es heißt schlicht und einfach: rund die Hälfte der Embryos, bei denen Down Syndrom diagnostiziert wird, werden abgetrieben. Von der anderen Hälfte sind aber nicht alle Kinder völlig ohne Befund, sondern es gibt noch einen gewissen Anteil von Embryos, die Auffälligkeiten haben. Und unter den Babys, die abgetrieben wurden, sind auch völlig gesunde Kinder. Nochmals zur Verdeutlichung: keine Diagnose kann mit 100% Sicherheit getroffen werden und über die Aussagekraft der Tests wird den Eltern in der Regel keine Angabe gemacht.
Positive Eltern-Kind Beziehung
Was bedeutet es für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, daß nach einer Behinderung gesucht wird mit dem Ziel, bei positivem Ergebnis die Schwangerschaft zu beenden? Unabhängig davon, daß ein gesundes Baby der berechtigte Wunsch aller Eltern ist – was bedeutet es für ein Kind, wenn die Eltern Vorbedingungen an das neue Leben stellen? Früher war jedes Kind bei seiner Entstehung darauf angewiesen, von den Eltern so angenommen zu werden wie es ist. Als Tochter, auch wenn sich die Eltern einen Sohn gewünscht haben oder umgekehrt. Die wenigsten Eltern lassen sich heute noch vom Geschlecht des Kindes überraschen und wissen meist früh, ob eine Tochter oder ein Sohn erwartet wird. Das Geschlecht ist in der westlichen Welt auch kein Grund zur Schwangerschaftsunterbrechung. Anders jedoch in China oder Indien: eine entsprechende Untersuchung hat dort für die weiblichen Föten fatale Folgen. Es bleibt zu überdenken, ob alles Machbare auch eingesetzt werden muss. Die pränatale Diagnostik hat immer Bedeutung für zwei Lebewesen; die Mutter muss für sich und das ungeborene Kind entscheiden. Wie immer sie entscheidet – sie selbst muss damit leben können. Die vorgeburtliche Diagnostik ist beides: Problem und Segen. Es gilt, die Balance zwischen einer totalen Überwachung der Schwangerschaft und einer gelassenen Zuversicht wiederzufinden.
Entscheidet sich eine positive Eltern-Kind Beziehung schon vor der Geburt? Es gibt sicher viele Kriterien, diese Beziehung zu messen; die Wichtigste scheint mir, keine Bedingungen an das ungeborene Kind zu stellen und es anzunehmen wie es ist. Ein Kind muss darauf vertrauen, dass es willkommen ist, genau so wie es ist. Das Vertrauen des Kindes ist wissenschaftlich nicht messbar, aber ganz sicher mitentscheidend für eine gute Beziehung zu den Eltern.
Die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik haben das Verhalten der werdenden Eltern zu einer eingeschränkten Annahme des Kindes verändert: „Wir nehmen Dich, wenn Du so bist, wie wir es wollen.“ Dies ist ein bisschen überspitzt ausgedrückt, insbesondere weil sich kein Paar und keine Frau die Entscheidung für oder gegen Abbruch der Schwangerschaft leicht macht.
Sich entscheiden – schwierig oder leicht?
Aber wie soll sich eine Mutter für ein behindertes Kind entscheiden, wenn ihr nur die schweren Seiten gezeigt werden, wenn sie nur über die medizinischen Probleme informiert wird und wenn sie nicht mal ein Kind mit dieser speziellen Behinderung gesehen hat? Der Abbruch der Schwangerschaft wird gefördert von der Vorstellung, daß es etwas Schreckliches sei, behindert zu leben und dies will man sich und dem Baby ersparen.
Etwas Schreckliches? Genau das ist es nicht: es ist ein Teil unserer vielfältigen Natur. Ob Eltern ein Kind mit besonderen Bedürfnissen annehmen können, liegt auch an der Art und Weise, wie sie diese Tatsache erfahren haben. Eine Mutter aus unserer Elterngruppe hat es so formuliert: „Es war gut, dass ich während meiner Schwangerschaft nicht gewusst habe,daß meine Tochter behindert sein wird und welche Art von Kleinwuchs sie hat. Ich hätte mir doch nichts darunter vorstellen können und Bilder von anderen betroffenen Kindern hätten mich nur erschreckt. So aber habe ich nach der Geburt meine Tochter gesehen, im Arm gehalten, ihre Wärme gespürt und konnte sie unbeeinflußt von vorheriger Angst als mein Kind annehmen und ins Herz schließen. Danach erst habe ich mich mit ihrer Behinderung auseinandergesetzt und Schritt für Schritt nach Lösungen gesucht.“
Nach einer schwierigen Diagnose empfindet jede Mutter, jeder Vater erstmal Schock, Ungläubigkeit, ja auch Trauer und Wut. Aber Segen und Nutzen der pränatalen Diagnostik müssen offen diskutiert werden. Wir, die wir Erfahrung haben, wie man mit kleinwüchsigen Kindern den Alltag meistert und sie für das „ganz normale Leben“ stärkt, sind geeignet, andere Eltern dazu ermutigen, sich für ein Kind zu entscheiden, das mit einer Behinderung erwartet wird. Nach meiner Erfahrung gibt es geeignete Ärztinnen und Ärzte, die besonnen reagieren, sodaß Rat und Hilfe – insbesondere bei Selbsthilfegruppen und Betroffenen – gesucht werden können.
Die Behinderung eines Kindes ist ja nur ein kleiner Teil von ihm – es gibt sovieles noch an diesem Kind zu entdecken und ich wünsche jeder Mutter und jedem Vater, den Mut, sich einzulassen, das Kind willkommen zu heißen und mit all seinen Fähigkeiten zu entdecken.
Meine persönliche Erfahrung ist geprägt von positiven Begegnungen und Erfahrungen, die wir in unserer Elterngruppe seit 21 Jahren machen konnten. Unser kleinwüchsiger Sohn ist ein großartiger, junger Mann, der mit seiner Frohnatur viele positive Einflüsse auf andere Menschen hat. Er war – und ist! – für uns eines unserer beiden perfekten Kinder.
Quellen:
„Da stimmt doch was nicht…“ Logik, Praxis und Folgen vorgeburtlicher Diagnostik